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Der letzte Gang - Mai

Ein kleiner Kiesplatz ist umrandet von vielen aus dem Boden ragenden Metallbalken. Auf den Balken sind 742 Namen eingraviert, zum gedenken an die Opfer des NS-Regimes.
An 742 Opfer des NS-Regimes erinnert das Stelendenkmal in Wasserburg - überwiegend zu Tode gekommen durch die sogenannte »Euthanasie«. (© Gerhard Nixdorf)

Ein langer Zug von Männern und Frauen bewegt sich am 7. November 1940 durch das weitläufige Gelände der Heil- und Pflegeanstalt Gabersee bei Wasserburg. Die 140 Patientinnen und Patienten steuern auf ein Bahngleis im Süden des Klinikgeländes zu. Was sie nicht wissen: Dieser Marsch ist ihr letzter Gang. Denn am Gleis wartet ein Zug, der sie nach Linz bringt. Ein Bus transportiert sie weiter ins Schloss Hartheim, wo sie noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet werden. Unter den Getöteten ist auch die 42-jährige Therese Mühlberger, eine Hebamme aus Reit im Winkel, die wegen einer schweren psychischen Erkrankung nach Gabersee gekommen war. Sie ist eines von über 70.000 Opfern der „Aktion T4“, mit der das NS-Regime Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen systematisch ermordete. Ihr Name steht auf einer der Stelen, die seit 2020 am Wasserburger Heisererplatz an die Opfer des NS-Regimes erinnern. 742 Namen sind darauf verzeichnet – ein Großteil davon Opfer der sogenannten „Euthanasie“ wie Therese Mühlberger: Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen, die aus den Anstalten Gabersee und Attl bei Wasserburg kamen.

Den Opfern einen Namen geben: Das will das Stelendenkmal, an dem der Bezirk Oberbayern maßgeblich beteiligt war. Und das ist auch das erklärte Ziel der Erinnerungskultur des Bezirks Oberbayern, mit deren Hilfe die Ermordeten aus den Heil- und Pflegeanstalten Gabersee und Eglfing-Haar ein Gesicht und eine Geschichte bekommen. Schließlich waren diese Anstalten die Vorgängerinnen des kbo-Inn-Salzach-Klinikums Wasserburg am Inn und des kbo-Isar-Amper-Klinikums München-Ost – beide Einrichtungen von kbo, den Kliniken des Bezirks Oberbayern. Der Bezirk sieht sich in der Pflicht, die dort begangenen Verbrechen historisch zu untersuchen und die Opfer zu würdigen. Schon unmittelbar nach dem Krieg hatte die Aufarbeitung begonnen, unter anderem mit einer Reihe von Strafprozessen gegen Ärzte und Pflegekräfte. Bald aber ließ das öffentliche Interesse nach. Erst mit der Psychiatrie-Reform um 1970 fingen die psychiatrischen Kliniken in Oberbayern wieder an, sich mit den Geschehnissen in der NS-Zeit zu befassen. Seither nimmt die Aufarbeitung immer größeren Raum ein. Dreh- und Angelpunkt ist das Archiv des Bezirks Oberbayern, in dem Tausende von Krankenakten aufbewahrt werden und das allen Interessierten für Auskünfte und Recherchen zur Verfügung steht.

2017 wurde der „Arbeitskreis Erinnerungskultur“ gegründet, in dem die kbo-Kliniken und der Bezirk ihre Initiativen koordinieren und neue Projekte anstoßen. So zum Beispiel ein Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde (2018), bei dem der Bezirk Mitherausgeber war. Aktuell ist ein Buch zu den Aufgaben, Ansätzen und Möglichkeiten der erinnerungskulturellen Arbeit in Oberbayern geplant, bevor dann ein Band über die oberbayerischen Euthanasie-Opfer erscheinen soll. Der Arbeitskreis wird von einem Politischen Beirat begleitet, in dem die Bezirkstagsfraktionen vertreten sind. Und am kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar soll in den kommenden Jahren ein neuer Informations-, Lern- und Gedenkort entstehen. Als erster Schritt wurden dort vier Erinnerungstafeln aufgestellt. Bei der Eröffnung mahnte Bezirkstagspräsident Josef Mederer: „Wir möchten unsere Erinnerungskultur mit dem Blick in die Zukunft gestalten. Ihre Richtschnur und ihr Kompass kann nur sein: Die Würde des Menschen ist unantastbar, heute und morgen.“