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Leiden an Körper und Seele

München, den Datum: 04.09.2015
Gesundheit

Studie des kbo-Kinderzentrums: Viele Flüchtlingskinder brauchen ärztliche Hilfe

Krieg, Flucht und Leid: Eine große Zahl syrischer Flüchtlingskinder ist an Körper und Seele krank. Mehr als ein Drittel leidet an einer psychischen Störung, über 80 Prozent der Kinder haben auch körperliche Befunde. Das hat eine Untersuchung von Prof. Volker Mall, Lehrstuhlinhaber für Sozialpädiatrie der TU München und Ärztlicher Direktor des kbo-Kinderzentrums München, in der Erstaufnahmeeinrichtung Bayernkaserne ergeben.

Die Studie hat Mall gemeinsam mit Prof. Peter Henningsen, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am TU-Klinikum rechts der Isar, durchgeführt. Für die repräsentative Stichprobe befragten die beiden Forscher 102 syrische Flüchtlingskinder in der Bayernkaserne. Die Kinder und Jugendlichen waren maximal 14 Jahre alt.

Sie berichteten Mall und seinen Kollegen von vielen traumatisierenden Erlebnissen. Auf der Flucht waren Hunger und Durst an der Tagesordnung. Ein Kind erzählte, es sei nachts sieben Stunden zum Meer gelaufen, dort hätte die Gruppe weitere zwei Stunden nach einem Boot gesucht. Beladen mit mehr als 100 Menschen sei das Schiff losgesegelt und habe auf offener See Feuer gefangen. In letzter Minute konnte die italienische Küstenwache die Passagiere retten. Ein anderes Kind fuhr tagelang in einem Lkw, mit anderen versteckt zwischen Kisten. Die Kinder durften keinen Mucks von sich geben, um nicht entdeckt zu werden. In seinem Umfeld erlebte ein weiteres Kind jeden Tag den Tod mindestens sechs Menschen.

„Diese Geschichten haben uns sehr betroffen gemacht“, erzählte Mall bei der Vorstellung der Studie. Eine am Kinderzentrum tätige Psychologin ist gebürtige Syrerin. Sie führte die Interviews mit den Kindern in der Muttersprache. Dabei zeigte sich, dass über 20 Prozent der Kinder an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, ein weiteres Fünftel an einer PTBS-Vorstufe sowie weiteren psychiatrischen Diagnosen. Bei einer PTBS zeigen die Kinder Verhaltensauffälligkeiten, Aufmerksamkeits- und Schlafstörungen; viele nässten ein. Über 80 Prozent der Kinder zeigten auch körperliche Befunde: Karies, Erkrankungen der Atemwege, infektiöse oder parasitäre Erkrankungen. Jedes zehnte Kind musste akut behandelt werden.

Prof. Mall spricht von einem „repräsentativen Querschnitt“. Der Sozialpädiater geht von einer „gewissen Unter-Diagnostizierung“ aus, da sich bestimmte Störungsbilder erst mit Abstand zum traumatisierenden Ereignis entwickeln. Der Wissenschaftler sieht daher eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass weitere Kindere eine Belastungsstörung entwickeln.

Fast zwei Drittel der Kinder waren mehr als zehn Monate auf der Flucht. „Die Dauer der Einwirkung eines Traumas trägt wesentlich zur Schwere einer Belastungsstörung bei“, weiß Mall. Deshalb sei es wichtig für die Kinder, zur Ruhe zu kommen und sich zuhause fühlen können. Einen negativen Effekt hätten dagegen anhaltende psychosoziale Belastungen wie ein unklarer Aufenthaltsstatus, die Trennung von Bezugspersonen, soziale Isolation und Diskriminierung, wie sie die Kinder häufig erlebten. Mall: „Eine Willkommenskultur hat eine präventive Wirkung für die Entwicklung von Traumafolgestörungen.“