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„Hinhören und nichts vergessen“

München, den Datum: 19.01.2024

Das Kleine Theater Haar inszeniert mit dem Musical VILLA HAAR Erinnerungskultur als theatrales Ereignis

Geschichte an dem Ort zu erzählen, an dem sie sich ereignet hat, ist besonders. Dieses geschieht eindrücklich in dem vom Kleinen Theater Haar produzierten Musical VILLA HAAR. Die Eigenproduktion des Theaters erzählt am Beispiel einer überlebenden Zeitzeugin das Schicksal von Patientinnen und Patienten, die während der NS-Diktatur in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Haar ermordet wurden.

Zwei Frauen sitzen eng zusammengekauert auf einem Sofa. Sie sehen ängstlich nach oben, hinter Ihnen ist der Schatten einer stehenden Person zu sehen.
© Hans Nagel

Das Musical spielt sowohl im Jahr 2018 als auch in der Zeit der NS-Diktatur. Es thematisiert den sogenannten Runderlass des NS-Regimes von 1939, mit dem der systematische Massenmord von tausenden Kindern mit Behinderungen begann. Wenig später folgte die „Aktion T4“, in deren Folge hunderttausende erwachsene Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen getötet wurden – darunter auch über 3.000 Patientinnen und Patienten der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Haar. Das Kleine Theater Haar wiederum, in dem das Stück aufgeführt wird, war 1912 als Gesellschaftshaus der Heil- und Pflegeanstalt erbaut worden. Heute ist es im Besitz des Bezirks Oberbayern, der die Verantwortung für die Bühne dem kbo-Sozialpsychiatrischen Zentrum übertragen hat. Dieses gehört zum kbo-Isar-Amper-Klinikum, der Nachfolgeeinrichtung der Heil- und Pflegeanstalten.

In diesem historischen Kontext ist der Plot von VILLA HAAR angesiedelt: 2018 lernen sich die 88-jährige Emma von Blumberg und Dr. Sarah Wülfing kennen – als Patientin und Hypnosetherapeutin. Zu dem Zeitpunkt ahnen die beiden Frauen nicht, dass sie schicksalhaft seit 1943 miteinander verbunden sind. Dr. Wülfing – zum Zeitpunkt des ersten Treffens 51 Jahre alt – kennt das Sterben in den ehemaligen Hungerhäusern der Heil- und Pflegeanstalt Haar nur aus Erzählungen. Und doch gibt es von den damaligen Geschehnissen eine direkte Verbindung zu ihr: Wülfings Großmutter Marie Gwandl war während der Patientenmorde verantwortliche Krankenschwester in der Heil- und Pflegeanstalt Haar und zugleich Geliebte des ärztlichen Direktors, Dr. Hermann Pfanngiesser – eine Rolle, die dem Anstaltsdirektor während der NS-Zeit nachempfunden ist, der die Krankenmorde verantwortete.

Die Zeitzeugin Emma von Blumberg hingegen erinnert sich traumatisch an ihre Zeit als Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt: an den quälenden Hunger, der die Kinder Tapeten essen ließ, an das Verhungern ihrer kleinen Freundinnen und Freunde, an die bizarr-grotesken Taten jener „Vier Wahnsinnigen“ – vier Pfleger, die sich mit der mit harter Hand herrschenden Krankenschwester Gwandl dem NS-Regime anbiederten und die Kinder zu Tode quälten. Emmas Erinnerung ist aber auch erfüllt vom Beginn ihrer großen Liebe zu ihrem späteren Ehemann, dem Soldaten Falk von Blumberg. Dieser ist ebenfalls Psychiatriepatient, weil er an der Front einen Schießbefehl verweigerte. Gemeinsam kämpfen Emma und Falk in der Heil- und Pflegeanstalt ums Überleben.

Das beeindruckende Stück basiert auf einer Idee von Theater-Intendant Matthias Riedel-Rüppel, der auch Produzent ist. Musik und Text stammen aus der Feder des Komponisten Thomas Erich Killinger, inszeniert hat es der Regisseur Christian Peter Hauser. „Uns geht es darum, den Opfern der NS-Diktatur ein Gesicht zu geben, zu erinnern und zu mahnen“, erzählt Riedel-Rüppel. Gefördert wird die Inszenierung unter anderem von der Gemeinde und der Bürgerstiftung Haar, den Kliniken des Bezirks Oberbayern (kbo), dem Bezirk Oberbayern und der Kulturstiftung Oberbayern. Fast 20.000 Euro hat Riedel-Rüppel durch ein Crowdfunding eingeworben – ein Kraftakt, der sich über fast zwei Jahre hinzog.

Das zeigt, wie viel Herzblut der Kulturmanager in das Projekt gesteckt hat. VILLA HAAR baut aus seiner Sicht eine Brücke zwischen Erinnerungskultur und Unterhaltung. Einen Genre-Konflikt sieht er nicht. „Wir könnten VILLA HAAR auch Schauspiel mit Musik nennen, außerdem darf ein Musical auch einen schweren Inhalt haben“, ist sich Riedel-Rüppel sicher. Wichtig ist für ihn, dass es erstmals gelungen ist über das Genre Musical eine generationenumspannende Aufmerksamkeit zu erzeugen: für die Historie des Nationalsozialismus und dessen beispiellosen Zivilisationsbruch.

Das Musical prägen nicht nur Drama und Schrecken, sondern auch heitere, besinnliche und durchaus verstörende Momente. Etwa, wenn die „Vier Wahnsinnigen“ eine exaltierte Revuenummer darbieten und dabei Krankenschwester Marie als das Sinnbild der deutschen Frau antanzen und feiern. Für das ungewöhnliche Musikerlebnis stehen im Kleinen Theater Haar herausragende Akteurinnen und Akteure aus Deutschland und Österreich auf der Bühne – allen voran die fünf Kinder, die stimmlich überzeugen, sowie die beiden Darstellerinnen für Emma als alte und junge Frau. „Auf unser Ensemble bin ich superstolz“, sagt Intendant Riedel-Rüppel. „Den Darstellenden gelingt es, Geschichte so zu erzählen, dass alle hingehören und nichts vergessen.“ Kurzum: Ein Musikerlebnis, das durch und durch geht. (Constanze Mauermayer)


Premiere war am 18. Januar im Kleinen Theater Haar. Termine für weitere Aufführungen unter: Reservix - Dein Ticketportal - Tickets bestellen bei Reservix; weitere Informationen: www.villahaar-musical.de

Eine weinende Frau hält einen schreinenden Mann am Arm zurück.
© Hans Nagel