Inhalt

Nicht nur Täterinnen, sondern auch Opfer

München, den Datum: 23.01.2025

Forensik-Leiterin Dr. Madeleine Kassar über Frauen im Maßregelvollzug

Dr. Madeleine Kassar leitet seit rund einem Jahr die Frauenforensik am kbo-Isar-Amper-Klinikum in Taufkirchen (Vils) bei München – die einzige reine Frauenforensik in ganz Deutschland. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist auch Medizinethikerin. Ihre Expertise stelle sie in diversen Strafprozessen in Deutschland und der Schweiz unter Beweis. Im Interview erklärt sie unter anderem, was die Patientinnen in Taufkirchen von Männern im Maßregelvollzug unterscheidet und wie sie versucht, ihnen die Rückkehr ins Leben zu ermöglichen.

Das Porträtfoto einer jungen blonden Frau, die in die Kamera lächelt.
Forensik-Leiterin Dr. Madeleine Kassar (© kbo-Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen (Vils))

Frau Dr. Kassar, stimmt es, dass immer mehr Frauen in den Maßregelvollzug kommen?
Dr. Madeleine Kassar:
Wir sehen hier in Taufkirchen in den letzten Jahren durchaus eine Zunahme, wir sind dauerhaft überbelegt. Gründe sind wahrscheinlich die zunehmende Strafverfolgung, aber auch ein Mangel an Alternativen. Manche Patientinnen mit Migrationshintergrund haben bereits vor der Aufnahme einen Abschiebebefehl, weshalb der Maßregelvollzug dann oft allein der Sicherung dient. Oder nehmen wir sehr auffällige Patientinnen, die in der Allgemeinpsychiatrie nicht angemessen versorgt werden können. Wenn sie irgendwann durch ihre Aggressionen straffällig werden, kommen sie aus Mangel an Alternativen in den Maßregelvollzug. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Unterbringungszahlen binnen 25 Jahren um 76 Prozent gestiegen sind. Die Justiz leistet also ebenfalls ihren Beitrag.

Dr. Madeleine Kassar ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und absolvierte im Jahr 2015 als erste Ärztin Österreichs das Masterstudium Angewandte Ethik an der Universität Graz.Seit November 2023 leitet Kassar den  Maßregelvollzug für Frauen im kbo-Isar- Amper-Klinikum Taufkirchen (Vils).

 

Welche Vergehen haben die Patientinnen begangen?
Das Spektrum der von Frauen begangenen Delikte ist ebenso vielfältig wie das der Männer. Allerdings verüben Frauen häufiger Bagatelldelikte. In der Regel werden schwere Gewaltverbrechten wie Tötungsdelikte – mit Ausnahme der Kindstötung – eher von Männern begangen. Allerdings wird weibliche Kriminalität manchmal unterschätzt, weil diese oft im familiären Umfeld passiert und deshalb nicht zur Anzeige kommt. Zum Beispiel Kindesmisshandlungen, Gewalt gegen den Ehepartner oder Gewalt gegen pflegebedürftige Angehörige.

Braucht es eine frauenspezifische Behandlung?
Tatsächlich ja. Einerseits, weil wir hier im Vergleich zum Männer-Maßregelvollzug sehr viele tätliche Übergriffe auf Personal und Mitpatientinnen haben. Das sind oft emotional instabile Frauen wie zum Beispiel Patientinnen mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung, deren Aggression sich nicht nur gegen sich selbst, sondern auch nach außen richtet – und zwar genau gegen die Bezugspersonen, denen sie eigentlich vertrauen. Andererseits sehen wir sehr viel Selbstverletzung, Selbstverstümmelung und Suizidversuche – auch ernstzunehmende. Man darf nicht vergessen, dass viele dieser Frauen in ihrem Leben selbst Gewalt erfahren haben. Sie sind damit nicht nur Täterinnen, sondern auch Opfer.

Gibt es auch Fälle, bei denen Sie an ihre Grenzen kommen?
Eindeutig, wenn auch Gott sei Dank nicht viele. Man will ja helfen und hat gleichzeitig das Gefühl, dass die Patientin gar nicht erreichbar ist oder so lange im Krisenmodus, dass man sich nur von einem Krisenplan zum nächsten hangelt. Da bin ich wirklich stolz auf meine Mitarbeitenden. Sie hängen sich rein, bleiben zuversichtlich und schaffen es auch bei komplexen Fällen, mit den Patientinnen wertschätzend und wohlwollend umzugehen. Ich glaube, der gesellschaftliche Beitrag, den meine Mitarbeitenden tagtäglich leisten, sollte mehr geschätzt werden.

In der Vergangenheit stand die Forensik immer wieder in der Kritik. Stichwort: Aufenthaltsdauer und Patientenrechte. Was ist seither anders geworden?
Es gibt immer noch kritische Stimmen, aber ich finde, dass das sehr gesund ist. Als Institution können wir nur besser werden, wenn wir gut zuhören, reflektieren und bewusst Brücken nach außen bauen. Wir haben in den letzten Jahren für Umstrukturierungsmaßnahmen und für eine differenziertere Betrachtung der Patientinnen gesorgt. Und wir versuchen, unsere Patientinnen so gut wie möglich in die Entscheidungen einzubinden, wodurch sie spürbar zufriedener werden. Ich denke, dass uns das besser gelingt als früher.

Auf dem Foto sieht man einen Innenhof, der von 2-stöckigen Gebäuden umgeben ist. Im Innenhof ist eine Rasenfläche und 2 Tischtennisplatten.
Stationshof der Frauenforensik in Taufkirchen (© kbo-Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen (Vils))

Manche Frauen bleiben nur wenige Monate im Maßregelvollzug, andere hingegen über viele Jahre hinweg. Wie schafft man es, solche Patientinnen ins normale Leben zurückzubringen?
Wir versuchen das jetzt mit einem „forcierten Probewohnen“: indem wir die Patientinnen gut eingewöhnen, intensiv betreuen, schnell zurückholen, wenn es mal nicht funktioniert, aber auch schnell wieder in die Einrichtung bringen. Unsere Behandlerinnen und Behandler sind die Hauptbezugspersonen, sie begleiten die Frauen engmaschig und gestalten die Übergänge sanft – in dem Tempo, das die Patientin vorgibt. Die neue Maßnahme kommt extrem gut an. Einerseits bei den Einrichtungen, die sehen: Wir stehen rund um die Uhr zur Verfügung. Andererseits aber auch bei den Patientinnen, weil sie wissen: Wir sind im Notfall da und brechen das Probewohnen nicht endgültig ab, sondern lassen es langsam angehen. Mit der Zuversicht, dass es letztlich klappt.

Wie hoch ist die Rückfallquote, wenn die Patientinnen letztlich entlassen werden?
Interessanterweise werden verurteilte Frauen viel seltener rückfällig als Männer. Die Fallzahl ist so niedrig, dass komplexere empirische Untersuchungen statistisch nicht ausgewertet werden können.

Interview: Ulrike Graßl