Wiesn-Bier und Wiesn-Braut
von Dr. Elisabeth Tworek, Leiterin der Kulturabteilung des Bezirks Oberbayern
Für viele Menschen auf der Welt sind München und das Oktoberfest identisch. Die Münchner sehen das freilich weit differenzierter. Und doch bestimmen die zweieinhalb Oktoberfest-Wochen zum Herbstbeginn den Jahresrhythmus der Stadt. Während dieser Zeit ruht das kulturelle Leben, und Künstler wie Publikum sind auf der „Wiesn“. Das war schon 1831 so, als das Konzert des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy wegen des Oktoberfestes verschoben werden musste.
Mitte Oktober 1810 fand das Oktoberfest zum ersten Mal statt. Damals feierte ganz München die Vermählung des Kronprinzen Ludwig mit der Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen. Zu den Feierlichkeiten, die sich einige Tage hinzogen, gehörte auch ein Pferderennen „vor dem Sendlinger Thore, seitwärts der Straße, die nach Italien führt“. Damals hatte München gerade einmal 40.638 Einwohner, einschließlich der Soldaten. Fast 30.000 Münchner feierten ihren Kronprinz und seine junge Gemahlin. Die „unzähligen Scharen“ von Zuschauern – Bürger, Handwerker, Bauern, Geschäftsleute, Wirte, Hausmädchen, Lohnkutscher – lagerten auf einem Hang über der Wiese, die mit königlicher Genehmigung künftig den Namen „Theresienwiese“ tragen durfte.
Bereits ein Jahr später wurden dort Oktoberfest und Zentrallandwirtschaftsfest gemeinsam gefeiert. König Max Josef und Kronprinz Ludwig erschienen persönlich. Das Oktoberfest wurde zum bayerischen Nationalfest erhoben, das seither Städter und Landbewohner gleichermaßen anzieht. Langsam, aber sicher weitete sich das Oktoberfest aus. 1818 schon errichtete ein Praterwirt Kegelbuden, Schaukeln und Karussells, eine Fischbraterei verbreitete anregende Düfte, und in einfachen Bierbuden konnte man den Durst löschen.1850 wurde auf der Theresienhöhe über der Festwiese das Monumentalstandbild der „Bavaria“ enthüllt, die nun als Sinnbild Bayerns über München wacht. Mit der Elektrifizierung der zunehmend größer werdenden Bierzelte und Schaugeschäfte gewann 1880 das Oktoberfest eine völlig neue Dimension. Aus den hell erleuchteten Bierzelten, die nun auch nach Einbruch der Dunkelheit Bier ausschenken konnten, trat man in die bunte Lichterwelt der Reklameschilder und der sich seither immer schneller drehenden Fahrbetriebe. Fast zeitgleich setzten die Schausteller auf den Reiz der Exotik. Völker- und Abnormitätenschauen, Wachsfigurenkabinette, Menagerien sowie Varieté- und Zaubertheater zogen vor und nach dem Ersten Weltkrieg die schaulustigen und vergnügungssuchenden Wiesnbesucher in ihren Bann.
Inzwischen ist das Oktoberfest das größte Volksfest der Welt und der internationalste Schauplatz Münchens. Dabei sein ist alles, koste die Maß Bier, was sie wolle. Auf der Achterbahn wie im richtigen Leben rauf und runtersausen, mit dem Riesenrad hoch über dem Boden schweben und die Sorgen immer klein werden lassen, mit dem Autoscooter hart aufeinander rumpeln und dabei vor Vergnügen schreien, mit völlig unbekannten Menschen eng umschlungen singen und schunkeln: Dieses einzigartige Lebensgefühl zieht jährlich über sechs Millionen Menschen in den Bann. Die Tisch sind Monate im Voraus ausgebucht, und die unzähligen Promis aus aller Welt nutzen den „Karneval in München“ zur Selbstdarstellung, wie Hotelerbin Paris Hilton, die als alpenländische Comic-Version im maßgeschneiderten Dirndl um die
Zelte zieht. Man gibt sich lässig, volkstümlich, von allen Nadelstreifen und gesellschaftlichen Zwängen befreit. Doch nicht nur die Reichen und Schönen verkleiden sich. Wer auf die Wiesn geht, trägt Tracht – oder das, was er dafür hält. Zum Dirndl-Imitat im Landhaus-Stil gesellt sich die rustikale Hirschlederne.
Wie zu Zeiten Ludwigs I. ist die Wiesn ein großer Gleichmacher geblieben, wo Konventionen und soziale Barrieren keine Bedeutung haben. Vor dem Fass sind alle gleich, ob jemand Straßen kehrt oder Straßen plant.