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„Seelische Krisen kennen keine Uhrzeit“

Soziales
Mittwoch, 28.04.2021, 14 Uhr

0800 / 655 3000 – erste Hilfe für die Seele: Die aufsuchende Krisenhilfe des Krisendienstes Psychiatrie Oberbayern ist ab 1. Mai im Landkreis Dachau sowie in den Landkreisen Freising, Erding, Ebersberg, Starnberg und Fürstenfeldbruck erstmals für Menschen in akuten seelischen Notlagen zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar. Alexandra Gorges von der Gesellschaft zur Förderung des Krisendienstes Psychiatrie Oberbayern (GKP) verantwortet in diesen Landkreisen mehrere Einsatzteams. Im Gespräch berichtet die Sozialpädagogin über mobile Krisenintervention.

Frau Gorges, die in Komm- und Geh-Struktur arbeitenden Einsatzteams sind in den Landkreisen des Münchner Umlandes ab 1. Mai rund um die Uhr verfügbar. Warum ist es wichtig, dass diese auch nachts in Bereitschaft sind?

Alexandra Gorges: Weil Krisen keine Uhrzeit kennen. Denken Sie nur an Familien- oder Paarkonflikte, Belastungsreaktionen, Suizidgedanken, Selbstverletzungsdruck, Angststörungen oder Panikattacken. Auch bei Selbstgefährdung, einem paranoiden Problemspektrum oder Verwirrtheit kann Hilfe in der Regel nicht bis zum nächsten Morgen warten. Diese psychosozialen und psychiatrischen Krisen kommen oft unvermittelt und plötzlich. Manchmal erscheinen sie existenzbedrohend und ausweglos. Wenn aber akute Krisen gut begleitet werden, gibt es oft die Chance, dass keine chronische psychische Erkrankung entsteht und der Betroffene zeitnah in ein geregeltes Leben zurück gelangt.

Welche Aufgaben haben die aufsuchenden Einsatzteams?

Gorges: Unsere Aufgabe ist es, die Situation vor Ort abzuklären und unnötige Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Wir kommen, um zu entlasten, wir hören zu und schauen, welche Ressourcen der Betroffene hat. Nach Bedarf vermitteln wir Unterstützungsangebote in der ambulanten Umgebung. Natürlich kann es auch sein, dass wir in eine Situation kommen, wo unser multiprofessionelles, nicht ärztliches Krisenteam nicht weiterkommt. Für diesen Fall können wir – dank unserer Kooperationsverträge – ärztliche Hilfe zu Rate ziehen.

Wie sieht eine Krise aus, die Ihren Einsatz erforderlich macht?

Gorges: Es gibt immer wieder Einsätze, die mich nachhaltig berühren, weil sie gerade jetzt die Herausforderungen des Lebens mit Corona für uns alle deutlich machen: Es war ein Einsatz bei einer sechsköpfigen Familie – der Vater ist im gehobenen Management, die Mutter erzieht die vier Kinder tagsüber oft alleine. Homeschooling, Haushalt, Beschäftigung der Kinder, häusliche Freizeitaktivitäten, dazu die immer wiederkehrende berufliche Abwesenheit des Vaters – dies alles hat eine psychosoziale Krise bei der Mutter ausgelöst, die den Einsatz eines mobilen Krisenteams erforderlich gemacht hat. Aufgrund der Schwere der Niedergeschlagenheit und der Überforderung der Frau fasste sich das Paar ein Herz und wandte sich telefonisch an die Leistelle. Diese bot aufgrund der Not einen mobilen Einsatz vor Ort an, dem stimmte die Familie zu und unser Team war binnen einer Stunde am verabredeten Einsatzort.

Warum hat Sie dieser Einsatz so berührt?

Gorges: Was diesen Einsatz so besonders machte, war die spürbare Angst vor einer Stigmatisierung. Greifbar war die Sorge, nicht mehr zu funktionieren, die Gedanken, was nun andere denken könnten, wenn man auf diese Weise vermeintlich Schwäche zeigt. Aber genau dafür gibt es den Krisendienst: Wir helfen diskret und gezielt, ohne dass die Situation weiter eskaliert. Der Familie haben wir ein Hilfsangebot vermittelt – nach zwei Stunden war alles wieder einigermaßen im Lot. Die schnelle sozialpsychiatrische Hilfe hat gewirkt.

War dieser Ablauf typisch?

Gorges: Grundsätzlich ja. Die Ursachen einer Krise unterscheiden sich, der Ablauf ähnelt sich aber. Die Leistelle klärt mit den Anrufenden durch spezifisches Hinterfragen den Sachverhalt. Wenn feststeht, dass die betroffene Person vor Ort Hilfe braucht, alarmiert die Leitstelle uns. Wir sind dann mit einem Team aus zwei Leuten – in der Regel verschiedener Profession und verschiedenen Geschlechts – innerhalb einer Stunde vor Ort. Mit einem unauffälligen Auto, ohne Blaulicht, in Straßenkleidung, ohne großes Aufsehen, aber effektiv. Vor Ort klären wir ab, was der betroffene Mensch jetzt braucht. Deshalb sprechen wir auch die weiteren Schritte eng mit ihm ab.


Was raten Sie Betroffenen und deren Angehörigen in einer Krise?

Gorges: Nehmen Sie das wertvolle Angebot der Krisenhilfe an und kontaktieren Sie uns, wenn Sie merken, Ihnen oder anderen Personen geht es nicht gut! Keiner wird mit psychischen Problemen allein gelassen! Die 0800 / 655 3000 muss deshalb genauso in den Köpfen präsent sein wie die 112.

Lesen Sie hier das gesamte Interview mit Alexandra Gorges.
Informieren Sie sich in der Pressemeldung “Erste Hilfe für die Seele - rund um die Uhr“ über die Einschätzung der Verantwortlichen des Krisendienstes vor Ort.